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BONN / FRANCOIS-PONCET Ein Zeuge tritt ab

aus DER SPIEGEL 10/1955

Es ist Zeit, daß ich gehe«, sagt im getäfelten Arbeitszimmer des dritten Stocks der französischen Hochkommission in Bad Godesberg ein grauhaariger Kavalier mit der Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch und einer altmodischen Goldkette über der Weste: »Eine Epoche neigt sich ihrem Ende zu.« André François-Poncet schnalzt ganz leise mit der Zunge: »tst, tst« und streicht sich den Schnurrbart, dessen Spitzen nicht mehr so keck, aber immer noch genau so elegant wie vor einem Vierteljahrhundert zur Decke weisen.

Dreizehn Jahre hat André François-Poncet in Berlin und Bonn, als Botschafter und als Hoher Kommissar, Frankreich in Deutschland repräsentiert. Als er 1931 das Palais am Pariser Platz in Berlin bezog, löste er den Botschafter de Margerie ab; heute soll de Margeries Sohn Roland sein Nachfolger werden.

Als André François-Poncet 1938 der Reichshauptstadt den Rücken kehrte, standen Hitlers Armeen marschbereit; heute soll sein Abgang aus der provisorischen Bundeshauptstadt der Startschuß für eine neue deutsche Nationalarmee sein. »Was diese Entwicklung bringen wird, weiß niemand. Ich bin kein Wahrsager. Es hängt von den Deutschen ab.« Trotz des beinahe operettenhaft singenden Akzents in François-Poncets Deutsch, der in verwirrendem Gegensatz zur makellosen Grammatik seiner deutschen Sätze steht, klingen die Worte des Franzosen wie eine dunkle Ahnung.

Aber schon ist André François-Poncet in seinen koketten Plauderton zurückgefallen: »Es wäre widernatürlich, wenn ich mich an meinen Sessel klammern wollte, während die jungen Leute ungeduldig vor der Türe harren, daß der alte Mann endlich Platz macht. Ich werde wieder im ''Figaro'' Leitartikel schreiben und weiter im Roten Kreuz arbeiten.«

Mit André François-Poncets Abgang von der politischen Bühne endet mehr als nur eine Besatzungsperiode. Mit François-Poncet zieht sich ein Kronzeuge der

jüngsten Geschichte des alten Kontinents zurück, ein Akteur all jener fruchtlosen Versuche des vergangenen Vierteljahrhunderts, die deutsch-französische »Erbfeindschaft« durch Gewalt, Collaboration oder Zusammenarbeit zu überwinden.

Er erlebte im Spiegelsaal von Versailles 1919 Frankreichs Triumph und im Prominenten-KZ als »Ehrengast der Reichsregierung« die deutsche Hybris. Reichskanzler Adolf Hitler bewunderte ihn, und Bundeskanzler Konrad Adenauer mißtraut ihm.

Die Dinge, die Poncet - ohne etwas ändern zu können - als Botschafter in Berlin erlebte, und die Macht, die er als Hoher Kommissar in Bonn ausüben konnte, seine Studien über Goethe und seine Verhaftung durch Gestapo-Beamte haben das unabhängige Denken dieses Mannes nicht zu beeinflussen vermocht. Er ist weder Freund noch Feind der Deutschen geworden. Er selbst nennt sich einen »kritischen Freund« Deutschlands. »Es zog mich gleichermaßen an, wie es mich abstieß.«

Er findet die animalische Vitalität der von faustischen Spannungen beherrschten Deutschen zugleich beneidenswert und befremdend. Seine Beziehungen zu Adolf Hitler, den er einen »Sohn von Jeanne d''Arc und Chaplin« nannte, und zu Konrad Adenauer reichen weit in das Gebiet der Tiefenpsychologie. Freud hätte seine Freude daran gehabt.

Wie kein anderer Missionschef genoß André François-Poncet in Berlin die Gunst des Führers. Vizekanzler Franz von Papen: »Hitler schätzte Herrn Poncet mehr als alle übrigen Diplomaten.« Staatsminister Otto Meißner: »Er erfreute sich der besonderen Wertschätzung Hitlers.« Außenamts-Staatssekretär Ernst von Weizsäcker: »Er war der einzige Diplomat, der bei Hitler Anklang fand.«

Selbst als im Krieg die deutschen Divisionen im Keller des Schlosses Rochecotte einen Teil der vernichtenden Berichte über das Dritte Reich aufstöberten, die der ehemalige Botschafter in Berlin dem Quai d''Orsay geschickt hatte, bewahrte der deutsche Diktator seine Hochachtung für den Franzosen.

An der Eichentafel im Speisesaal des ostpreußischen Führerhauptquartiers »Wolfsschanze«

notierte Dr. Henry Picker unter dem Bilde Götz von Berlichingens am 2. Juli 1942, mittags: »Im übrigen... wäre er (Hitler) froh, wenn er unter unseren Botschaftern einen Mann vom Format François-Poncets hätte. Denn dieser Franzose sei mit seinem weltweiten Geist nicht nur überzeugender Repräsentant europäischer Kultur, sondern dank seiner Konzilianz und Freigebigkeit mit Pralinen und dergleichen ein nicht zu unterschätzender Fechter auf der diplomatischen Bühne. Den Umfang seiner Verbindungen erhelle die Tatsache, daß er sich einmal einen ganzen Waggon Pralinen aus Frankreich habe kommen lassen*).«

Neun Jahre nach dieser Niederschrift inspirierte das überlieferte Pralinen-Wort des Führers Adolf Hitler den SPD-Chef Kurt Schumacher zu der bissigen Frage an seine Freunde: »Jetzt rechnen Sie mal nach, wer unter den deutschen Politikern gern Schokolade ißt.«

André François-Poncet erwiderte aufgebracht: »Herr Dr. Schumacher hat sich nie gescheut, die alliierten Hohen Kommissare in Deutschland auf die unpassendste Weise zu kritisieren ... Was die Pralinen anbetrifft, die nach Hitlers Meinung das hauptsächlichste Mittel meines Wirkens in Deutschland gewesen sein sollen, so haben sie leider nie genügt, um den Führer des Dritten Reiches von seinen unheilvollen Plänen abzubringen.« Diese Replik war voreilig. Der Spott Kurt Schumachers galt viel weniger dem Franzosen als dem Süßigkeiten knabbernden Kanzler Konrad Adenauer.

André François-Poncet gibt sich heute in der Bundesrepublik - wie einst im Dritten Reich - als Freund der Verständigung zwischen beiden Völkern; dabei hat er es nach dem Kriege - wie einst im Dritten Reich - an kritischen Äußerungen nicht fehlen lassen. Er schrieb über Deutschland und »die Deutschen":

▷ »Der Deutsche ist geschwätzig.«

▷ »Es ist eine deutsche Eigentümlichkeit, nie zufrieden zu sein.«

▷ »Die Deutschen sind gewohnt, sich als Opfer aufzuspielen, und es ist ihnen

*) Dr. Henry Picker: »Hitlers Tischgespräche«; Athenäum-Verlag, Bonn, 1951; 464 Seiten; 9,80 Mark. angeboren, niemals einen Fehler einzugestehen.«

▷ »Die Vorstellung, daß eine Regierung lügen könnte, geht nicht leicht in die Köpfe der Deutschen ein. Die angeborene Achtung, die sie vor der gesetzmäßigen Autorität haben, bringt sie dazu, sich allem unterzuordnen, was von ihr ausgeht.«

▷ »Das ist ... durchaus deutsch: Der Nimmersatt, der Mensch, der nie genug hat, kein Maß kennt und dem wertvoll erscheint, was er noch nicht sein eigen nennt, den ein Dämon zum Äußersten treibt...«

▷ »Der Minderwertigkeitskomplex paart sich bei dem deutschen Volk... mit dem Stolz.«

▷ »Jeder Deutsche ist in seinem Herzen mehr oder weniger Alldeutscher.«

▷ »Dieses deutsche Volk (zwischen den Weltkriegen) glaubte an das Evangelium der Gewalt.«

▷ »Wenn die Deutschen sich selbst überlassen sind und nicht mit eiserner Faust zur Disziplin gezwungen werden, verfallen sie wieder in Streit, Zank und Sonderbündelei.«

▷ »Hitler ... war der Schnittpunkt, die Verkörperung des Ehrgeizes, der Ränke, des Hasses, der Sehnsucht, der alten Träume, der tiefen Leidenschaften, der jahrhundertealten Vorurteile von Millionen und aber Millionen Menschen. Bevor er Ursache wurde, war er Wirkung, bevor er Stimme wurde, war er Widerhall.«

▷ »Die Deutschen träumen noch heute (1946) ... davon, Karl den Großen zu wiederholen. Sie möchten, wie er es war, Nachfolger und Erben des Römischen Reiches sein, Europa beherrschen, wie er es beherrschte.«

▷ »Frankreich hätte tausend Gründe, in einer radikalen Ablehnung gegenüber jenem Volk zu verharren, das es im Verlauf von noch nicht einmal einem Jahrhundert dreimal überfallen und so vielen seiner Kinder brutalste Mißhandlungen und abscheuliche Martern zugefügt hat*).«

Diesen vielfarbigen Strauß von generalisierenden Urteilen über die Deutschen und ihre Psyche pflückte André François-Poncet nicht allein bei offiziellem Aufenthalt in Deutschland. »Seit meiner Jugend hatte ich mich für Deutschland interessiert ... Seine Einrichtungen, seine Sprache, seine Sitten, seine Geisteswelt, die so widerspruchsvollen Ausdrucksformen seiner Landschaft und seiner Bewohner waren mir ... vertraut. Ich kannte seine Vorzüge und seine Fehler ...«

Schon Vater Henri François-Poncet, einst Richter am Appellationshof zu Paris, glaubte nach dem Krieg von 1870/71 an die Notwendigkeit einer deutsch-französischen Verständigung. Darum gab er seinem Sohn eine deutsche Gouvernante. Darum - und weil das Abitur in Frankreich an eine Altersgrenze gebunden war - schickte er ihn mit vierzehn Jahren in die Unterprima des Offenburger Gymnasiums, später nach Stuttgart und ließ ihn in Berlin, in München und an der Ecole Normale Supérieure zu Paris Germanistik studieren.

Der junge André, fast ein Wunderknabe wie Pierre Mendès-France, erwies sich dieser Ausbildung würdig. Als 23jähriger

*) Zitate aus: André François-Poncet: »Als Botschafter in Berlin«; 1947; 367 Seiten; 6,80 Mark; - »Von Versailles bis Potsdam«; 1949; 267 Seiten; 7,80 Mark; - »Politische Reden und Aufsätze«; 1949; 169 Seiten; 4,80 Mark; sämtlich beim Florian Kupferberg-Verlag, Mainz und Berlin. Studienrat am Lyzeum von Montpellier veröffentlichte er 1911 eine Untersuchung über Goethes »Wahlverwandtschaften«, und als Dozent für deutsche Literatur an der Ecole Polytechnique überraschte er 1913 die französische Öffentlichkeit mit einer Verständigungsbroschüre: »Was die deutsche Jugend denkt.«

Doch schon im nächsten Jahr brach der erste Weltkrieg aus, und dreißig Jahre später, nach dem zweiten Weltkrieg, forderte André François-Poncet als Frankreichs Hoher Kommissar am 13. März 1954 in einer Tagung der Europa-Union in Düsseldorf noch immer die deutsch-französische Zusammenarbeit, genau wie einst sein Vater. nur daß der Rückblick des André Poncet auf drei Jahrzehnte miterlebter Geschichte noch wesentlich trister war als der seines Vaters Anno 1871.

André François-Poncet: »Meine Generation ist überschattet worden von dem Konflikt zwischen Deutschen und Franzosen. Meine Mutter hat mir erzählt, daß sie als Kind bei der Belagerung von Paris im Jahre 1871 Rattenfleisch essen mußte. Ich selbst habe als Infanterist am Kriege 1914*) teilgenommen. Einer meiner Brüder ist gefallen.

»Ich habe den zweiten Weltkrieg mitangesehen und habe meine Mutter zu Grabe getragen, während die Deutschen Paris besetzt hielten. Nun gut, ich denke, daß es die Pflicht der Menschen meiner Generation ist, dieser dramatischen Feindschaft ein Ende zu setzen, einer Feindschaft, aus der nur Ruin und Elend entstanden sind.«

Diese Feindschaft am Rhein prägte auch das Leben André François-Poncets. Nach seiner Kriegsverwundung wurde er in das Außenministerium am Quai d''Orsay versetzt. Anfangsaufgaben als Presse-Attaché, Wirtschaftsexperte und politischer Beobachter führten den jungen Diplomaten nach Bern und Berlin, in die Vereinigten Staaten von Amerika und in das Rheinland. Aber schon am 28. Juni 1919 stand er - neben den führenden Männern der Weltpolitik

*) 1914 bis 1916 Kriegsteilnehmer, Leutnant im 304. Infanterie-Regiment, eingesetzt in den Kämpfen bei Hault-de-Meuse, Verdun und an der Woëvre, März 1916 verwundet, mit dem Kriegskreuz ausgezeichnet, ins Außenamt versetzt. - im Spiegelsaal von Versailles. Er sollte die Ansprache verdolmetschen, die Frankreichs Premierminister Clemenceau nach der Unterschrift des Friedensvertrages an die deutschen Delegierten richten wollte.

Das Dezennium, das dem Versailler Vertrag folgte, brachte André François-Poncet den erhofften sozialen und politischen Aufstieg. 1920 heiratete er die ebenso hübsche wie wohlhabende Jacqueline Dillais; wie von ungefähr eröffnete er im selben Jahr als Direktor - unterstützt vom »Comité des Forges« der französischen Schwerindustrie - das wirtschaftliche Forschungsinstitut »Société d''Etudes et d''Informations Economiques«, das ein tägliches Bulletin herausgab.

Seit jenen Tagen ist der Ruf, Vertrauensmann der französischen Schwerindustrie zu sein, an ihm haftengeblieben. Dieser Ruf festigte sich noch mehr, nachdem der junge Direktor 1924 als republikanisch-demokratischer Abgeordneter für das VII. Arrondissement von Paris in die Kammer eingezogen war. Dazu André François-Poncet: »Absolut unwahr, absolut verrückt! Das ist kommunistische Propaganda. Ich bin stets unabhängig gewesen.«

Argwöhnische Ruhrindustrielle behaupten heute dennoch, daß seine politische Einstellung zu Deutschland als Botschafter und Hoher Kommissar auffallend jenen Höhen und Tiefen gefolgt sei, durch die sich die Beziehungen der französischen zur rechtsrheinischen Schwerindustrie auszeichneten.

Seit 1928 diente der aufstrebende Politiker François-Poncet den Regierungen des gemäßigten Zentrums unter Poincaré, Briand, Tardieu und Laval als Unterstaatssekretär für die verschiedensten Aufgabengebiete: für schöne Künste, technisches Unterrichtswesen und nationale Wirtschaft.

Aber selbst in seinem »innenpolitischen Jahrzehnt« geriet André François-Poncet, wie von einem Magneten angezogen, immer wieder in das Kraftfeld deutsch-französischer Spannungen: 1922 erlebte er als französischer Delegierter in Genua den Abschluß des deutsch-sowjetischen Rapallo-Vertrages; 1923 residierte er während der Ruhrbesetzung als Leiter einer Nachrichtenstelle in Düsseldorf, bis ihn Meinungsverschiedenheiten mit dem Kommandierenden General Degoutte zur Rückkehr nach Paris veranlaßten; 1930/31 registrierte er im Völkerbund das Anschwellen des deutschen Nationalismus.

Bei einem Besuch des deutschen Reichskanzlers Brüning in Paris beschlossen der damalige französische Ministerpräsident Pierre Laval und sein Außenminister Briand 1931, den vielseitigen Deutschland-Sachverständigen, Wirtschaftsexperten und Spezialisten für das damals aktuelle Hoover-Moratorium**), André François-Poncet, als französischen Botschafter nach Berlin zu entsenden.

François-Poncets Vorgänger, Botschafter de Margerie, verabschiedete sich bei vertrauten Berliner Freunden mit dem ganzen Hochmut eines aristokratischen Diplomaten: »Jetzt kommt ja wohl ein kleiner Schulmeister, der meistens etwas overdressed ist.«

André François-Poncet hingegen über seinen Nachfolger, de Margeries Sohn Roland,

**) Während der Weltwirtschaftskrise 1931 schlug US-Präsident Herbert C. Hoover vor, die deutschen Reparationszahlungen ein Jahr zu stunden, um den Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft zu vermeiden. 55, den stellvertretenden Direktor der politischen Abteilung des Quai d''Orsay: »Ein ausgezeichneter Diplomat und Kenner Deutschlands. Er war jahrelang mein Botschaftssekretär in Berlin.«

Am 21. September 1931 war der neue Botschafter Frankreichs in der Reichshauptstadt eingetroffen. Sechs Tage blieben ihm, um neben allen Akkreditierungsformalitäten auch noch den Gegenbesuch Lavals und Briands an der Spree vorzubereiten. Die Visite verlief frostig.

Pierre Laval war unglücklich, weil ihm bei den offiziellen Diners kein Sauerkraut vorgesetzt wurde, er hielt es für das deutsche Nationalgericht. Am Morgen der Abreise traf ihn sein Botschafter François-Poncet auf dem Bahnsteig. Poncet: »Laval hatte eine gelbe Gesichtsfarbe, müde Züge und sah schlecht aus. Ich erfuhr, er sei nach dem Essen in der Botschaft ins Hotel Adlon zurückgekehrt und habe dort Sauerkraut bestellt, wozu er seine Begleitung eingeladen hatte. Damit hatte er übrigens zu so später Stunde den Küchenchef und das Hotelpersonal in nicht geringe Verlegenheit gesetzt.

»Es bekam ihm schlecht. Mitten in der Nacht war er, von Verdauungsbeschwerden geplagt, aufgewacht. Um die unangenehmen Wirkungen, die ihn quälten, loszuwerden, war er aufgestanden und Unter den Linden auf und ab gegangen, zum Erstaunen der Wachen, die ihm Ehrenbezeigungen erwiesen. Ein schlechtes Omen dachte ich, während der Zug abfuhr ...*).«

Die schon beim Sauerkraut deutlich werdenden Unterschiede in den Vorstellungen der beiden Franzosen von Deutschland zeitigten auch stark voneinander abweichende Ergebnisse: Premierminister Pierre Laval wurde 1945 von seinen Landsleuten wegen Collaboration mit den Deutschen hingerichtet; sein Botschafter wurde Statthalter der Vierten Republik in Deutschland.

Es dauerte nur sehr kurze Zeit, bis der neue Hausherr in der französischen Botschaft zu Berlin das Metier eines Botschafters vollkommen beherrschte.

Den allergrößten Wert legte er von Anbeginn darauf, wohlinformiert zu sein. Die kultivierte Neugier, die noch heute in den Augen des alten Herrn steht, wenn er einen unbekannten Besucher empfängt, und die eine der Wurzeln seines unglaublichen Wissens ist, befähigte ihn, die Schwierigkeiten der damaligen Situation zu überwinden:

»Die französische Botschaft verfügte nicht über die geldlichen Mittel, sich laufende Informationen dadurch zu verschaffen, daß sie die Überbringer derselben gut bezahlte. Ihre Geheimfonds beliefen sich im ganzen auf jährlich 45 000 Franken. Obendrein konnte darüber nicht frei verfügt werden, der Betrag mußte in voller Höhe an einen alten Pariser Journalisten ausgezahlt werden, der seit langem in der deutschen Hauptstadt lebte. Die Botschaft erfuhr jedoch viele Dinge ... Trotz Zensur, Polizei, Angeberei unterließ die Berliner Gesellschaft das Schwatzen nicht ...«

*) Der damalige deutsche Außenminister Julius Curtius ergänzt diese Darstellung: Schon bei einer gemeinsamen Fahrt durch die Havelseen habe man in Brüningslinden dem alten Angler Briand mit frischem Zander und Laval mit Fasan und Sauerkraut besondere Freude bereitet: »Gerade weil Laval das Sauerkraut in Brüningslinden so gut geschmeckt hatte, hat er es sich im Hotel noch einmal zum Souper bestellt.« (Julius Curtius: »Sechs Jahre Minister der Deutschen Republik«; Carl Winter-Universitätsverlag Heidelberg, 1948; 275 Seiten; 8,25 Mark.) Im Dritten Reich sollte sich Poncets Ruf, die Ohren überall zu haben, bald als gefährlich erweisen. Nach der Röhm-Affäre 1934 spielte Hitler selbst öffentlich auf Verbindungen der erschossenen »Verschwörer« Röhm und Schleicher zu einer fremden Macht an. Die Presse ließ deutlich durchblicken, daß damit der französische Botschafter gemeint sei. Und in der Tat hätte die von Röhm geplante Umbildung der Armee in eine Miliz für Frankreich militärisch und wirtschaftlich von entscheidender Bedeutung sein können.

André François-Poncet wird noch heute unwirsch, wenn er auf jene Vorgänge angesprochen wird: »Daß ich ein intimes Verhältnis mit Röhm gehabt habe, ist absolut kindisch ... Ich habe ihn zweimal gesehen ... Die Verwicklungen traten, glaube ich, auf, weil ich vierzehn Tage vorher bei einem Diner eines Berliner Bankiers mit Röhm zusammengesessen habe ... Röhm war gekommen, begleitet von sechs oder acht jungen Männern, die durch ihre Eleganz und Schönheit auffielen. Der Stabschef der SA stellte sie mir als seine Adjutanten vor ...«

Nachzuweisen war dem französischen Botschafter denn auch nicht die geringste Verfehlung. Sorgsam verzeichnet André François-Poncet in seinen Memoiren jede Nuance seiner Rehabilitierung:

»Die Wilhelmstraße ließ dem Quai d''Orsay durch den deutschen Botschafter in Paris, Köster, eine Note zugehen, die besagte, es habe sich erwiesen, daß der auf mir ruhende Verdacht jeder Grundlage entbehre, kein Schatten davon bliebe und das Reich sich glücklich schätzen würde, wenn ich weiter meinem Amt in Berlin vorstünde. Um die Bedeutung dieses Schrittes zu betonen, ließ mich Hitler eines Abends, als ich einer Aufführung der ''Walküre'' in der Berliner Oper beiwohnte,

zu sich in die Loge bitten und zeigte sich während der ganzen Pause im Gespräch mit mir stehend dem Publikum zugewandt ...«

Mit diesem Opernfinale schien die Affäre beigelegt. Doch acht Jahre später, 1942, konnten die Mittagsgäste Adolf Hitlers in seinem Rastenburger Hauptquartier einem Führermonolog entnehmen, daß er damals dem französischen Botschafter seine Ahnungslosigkeit nie so ganz geglaubt hatte und aus ganz anderen Gründen klein beigab.

Dr. Henry Picker stenographierte: »Als er (Hitler) nach der Machtübernahme mit den Aufrüstungsarbeiten begonnen habe, habe er immer mit Gegenmaßnahmen der Westmächte rechnen müssen. Das Geschwätz über Meinungsverschiedenheiten zwischen SA und Reichswehr sei ihm in dieser schwierigen Situation zu Hilfe gekommen. Der im Erfassen der Zusammenhänge sonst nicht zu bluffende französische Botschafter habe dieses Gerücht typisch mit dem Ohr des Franzosen aufgesogen, und je mehr man ihm davon zugetragen habe, desto nachdrücklicher habe er nach Paris berichtet, daß sich die Spannungen zwischen SA und Reichswehr so zu einem Streit auf Leben und Tod zuspitzten.

»Als dann der Röhmputsch erfolgt sei, habe sich der Pariser Regierung die Lage so dargestellt, als ob die Deutschen sich wie im Mittelalter gegenseitig die Köpfe einzuschlagen begännen und Frankreich wieder einmal auf Kosten Deutschlands der lachende Dritte sein könne. So habe der Röhmputsch noch großen Nutzen gestiftet und militärische Maßnahmen Frankreichs und darüber hinaus auch Englands so lange hingehalten, bis es für ein Eingreifen dieser Länder wegen des Fortschreitens der deutschen Aufrüstung zu spät gewesen sei.«

Als André François-Poncet 1931 Botschafter in Berlin geworden war, hatte André Tardieu, zu jener Zeit zwischen zwei Ministerpräsidentschaften pausierend, die hochgespannten Erwartungen des neuen Talents gedämpft und geunkt: »Den Beruf eines Botschafters gibt es überhaupt nicht mehr. Er ist dem Untergang geweiht. Die auswärtige Politik wird in der Hauptstadt gemacht; sie wird vom Zentrum aus geleitet. Der Botschafter hat bloß zu gehorchen; er ist nur noch ein Inlandspräfekt im Ausland.«

Noch nach dem zweiten Weltkrieg verteidigte André François-Poncet in einem Essay den »schönen und leidenschaftlich begeisternden Beruf« des Botschafters, »selbst wenn er nicht mehr das ist, was er früher war«. Man brauche dafür, so schrieb er, ein bescheidenes Selbstporträt zeichnend, »einen gutgekleideten, geistig bestentwickelten, vollkommenen und sogar einen leidlich vornehmen Mann"*).

Heute jedoch, ein Vierteljahrhundert nach seinem Eintritt und an der Schwelle seines Rückzuges aus der diplomatischen Karriere, ist Frankreichs Hoher Kommissar geneigt, Tardieu wehmütig recht zu geben: »Leicht war das Amt eines Botschafters in Deutschland nie. Er kann keine eigene Politik mehr machen. Er führt die Befehle seiner Regierungen aus. Sonst nichts.«

Das ist zum Teil die Resignation eines letzten Ritters der Diplomatie in einer Zeit, da Protestnoten durch Botschafts-Chauffeure abgegeben werden, das Telephon den Kurier ersetzt und Militärstiefel das diplomatische Parkett zerkratzen; in der die Weltmacht Amerika durch eine

*) André François-Poncet: »Der Beruf des Botschafters«; Révue de Paris, September 1948. »Ambassatrice« in der Heiligen Stadt am Tiber und das Land der Dichter und Denker durch einen Bürstenbinder in Bern vertreten ist.

Trotz seiner - gegenüber dem Rang eines Botschafters - nominell höheren Stellung als Hoher Kommissar vermißt François-Poncet heute den alles andere überstrahlenden Glanz aus Berliner Botschaftstagen. Damals wurde eine Gesellschaft erst vollkommen, wenn der Botschafter Frankreichs erschien. Heute tun der schüchterne Professor Conant und der unauffällige Sir Frederick Hoyar Millar die gleichen Dienste. So sehr hängt André François-Poncet an jener Berliner Zeit, daß er zwei bronzene Hunde aus dem Garten des zerstörten Palais am Pariser Platz in seiner neuen Berliner Residenz »Waidmannsaue« wiederaufstellen ließ, wo sie im vergangenen Jahr der sowjetische Hohe Kommissar Puschkin bei einer Höflichkeitsvisite bewundern konnte.

Die letzten Wurzeln seiner gewandelten Einstellung zum Beruf des Botschafters liegen jedoch viel tiefer, reichen in die ersten Berliner Jahre zurück. Denn in jener Zeit mußte er immer wieder erfahren, wie bedenkenlos der Quai d''Orsay sich in der Ära der Fernschreiber und Telephone, der außenpolitischen Parteiprogramme und der Prestigepolitik über die Depeschen seiner Botschafter hinwegsetzte, wie achtlos seine Anregungen als unbequem vom Tisch gewischt und seine Mahnungen in den Wind geschlagen wurden: »Übrigens interessierte es wenig, was ich persönlich dachte ... In neun Jahren (Botschafterzeit in Berlin und Rom) bin ich nur ein einziges Mal nach Paris gerufen worden ...«

Als 1935 in Deutschland wieder die Wehrpflicht eingeführt wurde, als Hitler 1936 das Rheinland besetzte und als er 1938 in Österreich einmarschierte, riet François-Poncet in seinen Berichten jedesmal zu Sanktionen der Westmächte. Aber nichts geschah.

André François-Poncets persönlicher Kontakt mit dem Führer war dabei seit der Machtergreifung immer besser geworden. »Im Herbst 1936 waren unsere Beziehungen so gut, daß er mich einlud, mit ihm allein auf dem Berghof in Berchtesgaden zu frühstücken.«

André François-Poncet war einer der wenigen ausländischen Missionschefs, die sich ohne die Dolmetscher-Tätigkeit des Gesandten Schmidt mit dem Führer unterhalten konnten. Nicht weniger wichtig war es, daß Frankreichs Botschafter über eine große diplomatische Gabe, die Kunst des Zuhörens, verfügte. Dem Emporkömmling Hitler schmeichelte es, von einem Grandseigneur der alten französischen Schule ästimiert zu werden.

André François-Poncet seinerseits sah seinen Vorteil darin, Einfluß auf den Führer des Dritten Reiches zu gewinnen, und dieses Bestreben war gewiß nicht frei von Eitelkeit. Fühlte er sich doch zugleich von Hitler fasziniert und angeekelt. »Ich sprach übrigens sehr offen mit ihm, mit einer Freimütigkeit, die ihm nicht mißfiel.«

Wenn Hitler guter Laune war, imitierte er sogar den singenden Akzent des Botschafters. »Sie sprechen so gut«, frozzelte er ihn einmal, »daß ich Sie am liebsten als Reichsredner einsetzen möchte.« André François-Poncet war geistesgegenwärtig genug, das Angebot mit einem Stich gegen die »Sonderbeauftragten«-Manie des Dritten Reiches zu beantworten: »Das Amt würde ich gern annehmen, aber nur z.b.V.«

In München führte der Diktator den Botschafter eines Tages durch das Haus der Deutschen Kunst, mit Verve die Monumentalwerke

nationalsozialistischer Kultur erklärend. Stumm folgte ihm André François-Poncet. Als sie aber vor einem monströsen weiblichen Rückenakt Zieglers stehenblieben, kam er seinem Begleiter zuvor: »Oh, mein Führer, ich sehe: Madame de Berlichingen ...«

1937 nahm François-Poncet auf Wunsch des britischen Botschafters Henderson zum erstenmal am Nürnberger Parteitag teil. Dem Franzosen fiel als dienstältestem Botschafter die Begrüßungsadresse an Hitler zu. Am Abend zuvor hatte Goebbels die demokratischen Völker mit jenen dümmsten Kälbern verglichen, die ihren Metzger selbst wählen. André François-Poncet hatte davon gehört und dankte nun in seiner Rede dem Führer, daß er seinen Minister dementiert habe, denn er könne sich nicht vorstellen, daß der Führer die Vertreter der dümmsten Kälber heute eingeladen habe. Goebbels wurde blutrot, Hitler lachte.

Am 28. September 1938, als Hitlers Ultimatum an die Tschechoslowakei ablief, suchte André François-Poncet in der Reichskanzlei um eine Audienz bei Hitler nach. »Sie wissen, Herr Reichskanzler, ich bin immer Ihr guter Stern gewesen«, waren seine Begrüßungsworte. Als in diese Unterhaltung Mussolinis Botschafter Attolico mit einem Vermittlungsvorschlag des Duce platzte, war Hitler schon so präpariert, daß er sich für den Frieden entschied.

36 Stunden nach dieser Szene, in der Nacht vom 29. zum 30. September 1938, wurde um 1.30 Uhr von Chamberlain, Daladier, Hitler und Mussolini das Münchner Abkommen unterzeichnet, das den Frieden noch einmal rettete.

Die Paladine Hitlers waren die bevorzugte Zielscheibe für André François-Poncets Spott. Als der »Mythus«-Rosenberg bei einem Empfang in der französischen Botschaft einen »Benediktiner«-Likör ablehnte, erkundigte sich der Gastgeber sofort scheinheilig nach dem Grund. Prompt tappte Rosenberg in die Falle: »Ich kann so früh noch keinen Benediktiner vertragen.« André François-Poncet: »Aber Herr Reichsleiter, Sie schlagen doch schon morgens in der Regel zwei Kapuziner tot und können

mittags keinen kleinen Benediktiner schlucken?«

Nach einer Definition des Nationalsozialismus gefragt, antwortete Frankreichs Botschafter: »Der Nationalsozialismus ist der Sieg der Boches über die Deutschen.«

Es steht außer Zweifel, daß André François-Poncets Sentenzen entscheidend dazu beitrugen, seine Stellung in Berlin zu begründen und zu festigen. In Rom fanden später sein gallischer Witz und seine lateinische Eleganz nicht annähernd so viel Beachtung. Mussolinis Schwiegersohn, Graf Ciano, über François-Poncets geschwächte Stellung in der Heiligen Stadt: »Ganz einfach, wir machen unsere Bonmots selbst.«

Ebenso sicher ist es jedoch, daß der Franzose sich in Berlin hinter seinen Aperçus versteckte. Aber was lag hinter den politischen Aphorismen, hinter der liebenswürdigen Ironie? Verbarg die Liebenswürdigkeit die Abscheu, oder sollte die Ironie die Bewunderung verhüllen? Oder lag nichts dahinter?

Die Prominenten des Dritten Reiches, einschließlich Adolf Hitlers, wähnten André François-Poncet auf ihrer Seite. »Sie waren naiv in ihrem Zynismus und verstanden nicht, daß man Deutsch sprechen und von deutschen Dingen etwas verstehen könne, ohne ihnen beizustimmen und sie und ihr Tun zu bewundern.«

Es gab allerdings noch andere Indizien für die über das protokollarische Maß hinausgehende Zuneigung des Diplomaten zu dem Diktator, die André François-Poncet in seinen Memoiren unerwähnt läßt: So etwa ein Führerbild mit Widmung, das bis zum Kriegsausbruch auf Poncets Klavierdeckel stand.

Ehrlich entrüstet waren darum die Machthaber des Dritten Reiches, als Paris nach Kriegsausbruch ein Gelbbuch veröffentlichte, das - ohne François-Poncets Einwilligung - seine kritische Depesche über seinen Abschiedsbesuch bei Hitler enthielt.

1938, im Jahr der Münchner Konferenz, »rutschte François-Poncet auf der Achse« (Ernst von Weizsäcker) nach Rom: »Ich schmeichelte mir nicht, die Achse ... zerbrechen zu können. Aber ich traute

immerhin den Italienern mehr Klugheit zu als den Teutonen und sagte mir, der Duce werde, wenn man ihn rechtzeitig warne, wohl darauf bedacht sein, der Vorteile seines in München vollbrachten Werkes nicht verlustig zu gehen.«

Ribbentrop überreichte dem Scheidenden das Großkreuz des Deutschen Adlerordens - und warnte gleichzeitig Mussolini schriftlich vor dem »Spaltpilz«. Hitler empfing ihn am 18. Oktober in seinem Teehaus auf dem Kehlstein. Das Ergebnis dieser Unterhaltung war eine deutschfranzösische Erklärung, in der das Reich auf Elsaß-Lothringen verzichtete, und die am 6. Dezember in Paris unterzeichnet wurde.

Staatssekretär Ernst von Weizsäcker: »Als Poncet im Begriff war, vom Pariser Platz nach dem Palazzo Farnese in Rom überzusiedeln, spottete er: ''Palazzo far niente.'' Damit hatte er mehr recht, als er wohl selbst vermutete. Denn in Rom hatte man weniger Sinn für ihn als in Berlin. Mussolini zeigte sich ihm ziemlich unzugänglich.«

Bereits nach wenigen Monaten seufzte André François-Poncet einem Freund gegenüber auf die Frage, ob er schon Italienisch gelernt habe: »Nein, mein Freund, ich habe sogar Französisch vergessen. Niemand spricht in Rom mit mir.«

Der Krieg in Polen ging vorüber. Italien blieb »nichtkriegführend«. Ciano sagte zu François-Poncet: »Geben Sie sich keine Mühe. Wenn Sie siegen, werden wir mit Ihnen gehen.« Am 10. Mai 1940 fiel die Wehrmacht in Frankreich ein. Am 10. Juni 1940 wurde Frankreichs Botschafter zum italienischen Außenminister gebeten.

»Ciano trug die Uniform eines Majors der Flieger. Sein Gesicht war gerötet, und er schien verlegen. ''Sie wissen, worum es sich handelt?'' fragte er. ''Man muß nicht sehr intelligent sein, um es sich vorzustellen'', antwortete ich, ''Sie haben es mir ja auch lange vorausgesagt, was geschehen werde.''« Ciano gab im Namen seines Königs die Kriegserklärung bekannt.

Nach dem Waffenstillstand räumte François-Poncet, einem Wink des deutschen Botschafters in Paris, Otto Abetz, folgend, seine elegante Wohnung in der Rue du Ranelagh, ehe man ihn in der Seine-Stadt fassen konnte, und siedelte sich im unbesetzten Teil seines Vaterlandes an. Er wurde Presse-Generaldelegierter der Vichy-Regierung unter Marschall Pétain, aber sein Versuch, die Zensur zu mildern, mißlang.

In Grenoble widmete er sich danach als Privatmann dem Studium des Schicksals Henry Beyles, der unter dem Namen Stendhal in die französische Literatur einging und als Etappen-Intendant Napoleons in Braunschweig mit Hilfe weiblicher Collaborateure - von Dienstmädchen bis zu Baronessen - auf der Sonnenseite deutsch-französischer Fraternisation gewandelt

war. »Stendhal in Braunschweig« war deshalb das Thema der Rede Poncets, als er am 9. Januar 1943 in die Akademie der Dauphiné in Grenoble aufgenommen wurde*).

Es ist eine ironische Arabeske der Geschichte, daß dieser Mann später, 1953, bei seiner Aufnahme in die »Compagnie« der »Unsterblichen«, die »Académie Française«, seine Antrittsrede auf Marschall Henri Philippe Pétain, den Nationalheroen des ersten Weltkrieges und Präsidenten der Collaboration des zweiten Weltkrieges, halten mußte, weil er den Sitz des Marschalls in der Akademie einnehmen sollte.

Mit 16 von 31 Stimmen gewählt, stellte sich André François-Poncet am 22. Januar 1953 dem erlauchten Gremium, im grünen bestickten und dekorierten Frack, mit Zweispitz und ziseliertem Degen, dessen Knauf eine Minerva in Onyx schmückt, die sich auf einen goldenen Schild mit den eingravierten Wappen von Paris und Bonn stützt.

Zum erstenmal in der ruhmreichen Geschichte der Akademie, des Hortes französischer Sprache und Literatur, hatte das Institut de France Eintrittskarten ausgeben müssen; so stark war der Andrang 600 Zuhörer, unter ihnen Robert Schuman und Marschall Juin, erwarteten das Urteil über Pétain, den Collaborateur, aus dem Munde jenes Franzosen, dessen Stern einst selbst am Hof des Diktators geleuchtet hatte und dessen Rolle als Hoher Kommissar bei Konrad Adenauer der des deutschen Statthalters Otto Abetz bei Philippe Pétain ähnelte.

»Marschall Pétain«, so sprach André François-Poncet, »hat dem Buch unserer Geschichte Seiten hinzugefügt, die lichtvoll bleiben, und andere, die noch immer

*) André François-Poncet: »Stendhal in Braunschweig«; Florian Kupferberg-Verlag, Mainz und Berlin 1952; 86 Seiten; 18 Mark. sich feindlich entgegenstehende und Leidenschaften entfesselnde Betrachtungen auslösen. Wir wollen die ersteren ehren, wir können die letzteren nicht übersehen ... Das Schicksal Marschall Pétains gleicht einer großen griechischen Tragödie.«

Nach der Besetzung ganz Frankreichs Anfang 1943 hatten zunächst zwanzig italienische Musketiere Poncets Haus umzingelt. Erst der Sturz Mussolinis befreite ihn am 27. August des Jahres. Das war um elf Uhr. Um zwölf Uhr schon überwachte ein Gestapo-Herr den ehemaligen Botschafter beim Kofferpacken, den Revolver in der Hand. In dem mit laufendem Motor vor dem Haus parkenden Wagen wartete bereits der letzte Präsident der Dritten Republik, Albert Lebrun.

Über Lyon und Paris ging die Fahrt der »Ehrengäste der Reichsregierung« zum Barockschloß Itter in Tirol. Dort saßen schon Daladier und Paul Reynaud, Gewerkschaftsboss Léon Jouhaux und General Gamelin, Oberkommandierender der französischen Armee bei Kriegsbeginn.

Im November mußte André François-Poncet seine unfreiwillige Reise bis ins Berghotel Ifen im Walsertal fortsetzen. Der Auslauf des prominenten Internierten reichte etwa fünf Kilometer bis an die Kirchen der beiden nördlich und südlich gelegenen Dörfer, deren Einwohner ihre Uhren nach den präzisen Mittagsspaziergängen des Herrn in grauen Knickerbockern zu stellen pflegten. Rote-Kreuz-Konserven mit argentinischem Hühnerfleisch ergänzten die schmale Kost. »Ich mußte Zusammengekochtes essen«, war später eine der bittersten Erinnerungen François-Poncets an diese Zeit.

Auch im Walsertal gab André François-Poncet sich literarischer Arbeit hin. Betrachtungen über Shakespeare und Nietzsche, Rabelais und Dostojewskij füllen die Kapitel seiner Internierten-Memoiren, unterbrochen von des Autors Lieblingsschilderungen, liebevoll-boshaften Profilskizzen seiner Mitgefangenen: Paul Reynaud bei der Morgengymnastik ("voll Jugendkraft und Ressentiment") oder Italiens Ex-Premier Nitti, mit dem André François-Poncet am Sonntagmorgen in die römisch-katholische Kirche ging und der die ebenfalls internierten Herzoginnen von Aosta samt Kindern und Gouvernanten nicht kennen wollte.

Nach der pittoresken Machtübernahme österreichischer Widerstandskämpfer und der Ankunft einer Abteilung der 2. französischen Panzerdivision wurde 1945 das »Prominenten-KZ« im Berghotel aufgelöst. (Sieben Jahre später besuchte der Gefangene mit seiner Gattin den Luxus-Kerker und schlief als Hoher Kommissar in seiner alten »Zelle«.)

Auf eigenen Wunsch vom Quai d''Orsay mit Bezügen zur Disposition gestellt, veröffentlichte André François-Poncet im befreiten Paris alsbald seine Berliner Erinnerungen und eine Untersuchung über »Frankreich und das deutsche Problem der Gegenwart«, deren Rechtfertigungscharakter selbst bei wohlwollender Betrachtung nur schwer zu übersehen ist. Allzu lange hatte er allzu dicht im Schatten des schrecklichen Diktators gestanden. Zuweilen verrät sich auch der Goethe-Freund durch seine »Lust am Fabulieren«.

Intime Freunde des Botschafters aus vergangenen und gegenwärtigen Tagen, die in Deutschland nicht gerade selten

sind, haben von der angeblichen Zuneigung des Franzosen zum Dritten Reich jedoch ein übertriebenes Bild gezeichnet: Seine Söhne hätten als Ehrenmitglieder der HJ braune Uniformen getragen, er selbst sei wegen seines Verhaltens im NS-Deutschland nach dem Krieg in Frankreich unwählbar gewesen und im Krieg sogar von einem Widerstandsgericht verurteilt worden. André François-Poncet heute: »Lauter Lügen.«

Deutschland, das Land, »das für andere ebenso wie für sich selbst rätselhaft bleibt«, ließ ihn auch nach 1945 nicht los. Als Außenpolitiker des konservativen »Figaro« leitartikelte er mit Vorliebe über den rechtsrheinischen Nachbarn. Schon 1946 unternahm er eine Informationsreise durch das geschlagene Land. Am 22. November 1948 ist es wieder soweit. Der Quai d''Orsay, in dem die traditionslosen Widerstandskämpfer zwar Minister, aber nicht Botschafter werden können, entsendet ihn als Sonderbeauftragten und politischen Berater an den Hof des französischen Vizekönigs in Deutschland, des Generals Marie-Pierre Koenig.

Es war nicht viel, was den Diplomaten alter Schule André François-Poncet mit dem habichtnasigen Militär Koenig verband, der 22 Jahre lang die Epauletten eines Leutnants, Oberleutnants und Hauptmanns getragen hatte, ehe er in der Emigration unter Charles de Gaulle binnen einem Jahr vom Major zum General aufstieg.

Ein Mansardenzimmer wurde dem Botschafter in Baden-Baden angewiesen, selbst die Beschaffung eines Schreibtisches bereitete Schwierigkeiten, und die politischen Vorträge des Sonderbeauftragten des Quai d''Orsay wurden vor Buchhändlern, Historikern und Pädagogen gehalten.

Mit vorbildlicher militärischer Widerstandskraft verteidigte der General Koenig seinen Vizekönigs-Thron. »Es ist ein Jammer mit den Generalen«, stöhnte André François-Poncet mokant, »wenn man sie braucht, sind sie nicht zu finden; wenn man sie nicht mehr braucht, sind sie nicht fortzubewegen.«

Es war vermessen vom »Zaun-Koenig«, wirklich zu glauben, auf die Dauer widerstehen zu können: Am 2. August 1949 wurde André François-Poncet zum Hohen Kommissar Frankreichs in der sich gerade etablierenden Bundesrepublik ernannt.

Er stoppte den unter General Koenig hochentwickelten Requirierungs-Pomp des

Besatzungsregimes: Es sei »die besondere Aufgabe Frankreichs, seine Zone so zu gestalten, daß sie, die größte Anziehungskraft ausübend, im hellsten Lichte erstrahlt«.

Die Kinder André François-Poncets haben die Vorliebe ihres Vaters für Deutschland geerbt. In ihres Vaters Berliner Zeit hatten sie akzentfreies Deutsch gelernt, was drei von ihnen nun, da ihr Vater wieder in Deutschland tätig war, zu würdigen lernten.

Louis, der älteste Sohn, war lange Zeit im Filmatelier von Remagen tätig, bis er nach Frankreich ging, um sich dort mit Filmimport und Synchronisation zu beschäftigen. Noch heute sind seine Verbindungen

zur deutschen Allianz-Film recht eng. Er ist mit einer der reichsten Schweizer Erbinnen verheiratet, deren finanzielles Gewicht von Kennern etwa in der Größenordnung von Oerlikon Bührle eingestuft wird.

Sohn Henri hat sein Verhältnis zu Deutschland mittlerweile auch durch eine Zweizimmer - Junggesellenwohnung am Münchner St.-Anna-Platz gefestigt, nachdem er vorher jahrelang im Hotel Schottenhamel gewohnt und in den Gesellschaftsspalten der Münchner Zeitungen einen festen Platz erworben hatte. Sein Cadillac, sein Reitstall und seine hohen Ansprüche in der Auswahl seiner Begleiterinnen trugen zur Sicherung seines Rufes bei. Daß unter diesen Damen nicht selten die führenden Mannequins der bayerischen Landeshauptstadt waren, offenbarte eine gewisse natürliche Disposition für seinen gegenwärtigen Job: Er ist Deutschland-Vertreter des Hauses Christian Dior; Mode und Geschmack sind zu seinem Geschäft geworden.

Dabei hatte Henri im Nachkriegsdeutschland als französischer Verbindungsoffizier bei der britischen Armee begonnen, bevor er nach Frankreich zurückkehrte, um sich einer Ausbildung in der Industrie zu unterziehen.

Nachdem sein Vater im November 1948 wieder in Staatsdiensten tätig geworden war, kam Sohn Henri durch Münchner Freunde zur Firma Pankofer, die man bis dahin durch ihr Jopa-Eis am Stiel kennengelernt hatte. Das Studium der Tiefkühlung fesselte den jungen Volontär aber nicht so intensiv wie andere besser temperierte Möglichkeiten Münchens. Zudem traten nun immer häufiger auch Bekannte aus Frankreich an ihn heran, die ihn um Erledigung geschäftlicher Angelegenheiten oder um Beratung in Deutschland baten.

Endlich übernahm Henri die Vertretung der Dior-Interessen und damit zugleich - was wirtschaftlich wohl interessanter sein dürfte - die Vertretung des größten französischen Textil-Konzerns, Boussac. für Deutschland. Mit der deutschen Strumpffirma Uhlmann brachte er einen Lizenzvertrag zustande, so daß Dior-Strümpfe heute in Lippstadt (Westfalen) hergestellt werden.

Dank Henri Poncets Beziehungen und seiner gesellschaftlichen Perfektion wurde

*) Henri mit Marianne von Bismarck und Frau Knesebeck beim Kostümfest, Bernard mit Onassis-Sekretärin. endlich auch im Dezember 1953 eine Dior-Modenschau in der Krupp-Villa Hügel in Essen möglich; daß der französische Hohe Kommissar mit seiner Gattin bei diesem gesellschaftlichen Ereignis im Allerheiligsten der deutschen Schwerindustrie erschien, erklärt sich nicht zuletzt aus der Veranstalterrolle seines Sohnes.

Mit dem Hinweis auf Henri François-Poncets exponierte gesellschaftliche Stellung nehmen ihn seine Freunde auch gegen die Unterstellung eines zu aufwendigen Lebenswandels in Schutz. Der große Wagen sei für einen Dior- und Boussac-Repräsentanten selbstverständlich. Was den Reitstall betreffe, so habe Henri seine Pferde billig gekauft und sie selbst zugeritten, überdies habe ihm seine Freundschaft mit dem in München stationierten olympischen Reiterteam der Amerikaner deren Einladung beschert, seine Pferde kostenlos im amerikanischen Stall in Riem unterzustellen und von amerikanischen Stallburschen bewegen zu lassen.

Man weiß, daß die Poncet-Kinder von den Eltern so ausgestattet sind, daß sie ohne jede Arbeit ihr gutes Auskommen hätten. Das verleitete aber auch Bernard, den dritten und bestaussehenden Sohn der Familie, keineswegs zum Nichtstun. Er hat vielmehr seine Beschäftigung bei einem französischen Wasserstraßenverband mit der ungleich höher dotierten des Public-Relation-Chefs beim Reeder- und Kasinokönig Aristoteles Onassis vertauscht.

Bernard war es, der vor Jahren beim vieldiskutierten Paris-Besuch der englischen Prinzessin Margaret den ersten Walzer mit der Schwester der britischen Königin tanzte. Das beweist nicht nur den europäischen Rang, zu dem der Botschafter sich und seine Familie gebracht hat - es beweist auch die Freundschaft, die zwischen Margaret, der Prinzessin, und Geneviève, der einzigen Tochter des Botschafters, besteht, die ihren Bruder hier zu gesellschaftlichen Ehren kommen ließ. Nicht selten ist Geneviève in England bei Margaret zu Gast.

Der Benjamin der Familie schließlich, Jean, hat sich entschlossen, dafür zu sorgen,

daß in der französischen Diplomatie der Name François-Poncet nicht ausstirbt. Kürzlich erst hat er die Abschlußprüfung für den diplomatischen Nachwuchs in Frankreich abgelegt - mit der besten Note seines Jahrgangs.

Tochter Geneviève ist das einzige der fünf François-Poncet-Kinder, das noch bei den Eltern wohnt. Ihr Vater hat an Stelle des von dem Militärbefehlshaber bevorzugten. aufdringlicheren Baden-Badener Milieus das unauffälligere und vornehmere Schloß Ernich bei Remagen hoch über dem Rhein zur Residenz gewählt, nicht zuletzt, weil das benachbarte Bonn

zur provisorischen Bundeshauptstadt erkoren worden war.

Hier erfüllen André und Jacqueline François-Poncet als Schloßherr und Schloßherrin ihre Verpflichtungen als Repräsentanten Frankreichs mit der gleichen Vollkommenheit und unnachahmlichen Grazie wie einst am Pariser Platz in Berlin.

Sie führen dieses glanzvollste Haus der Bundesrepublik nicht nur zu ihrem Vergnügen, sondern mit unendlicher, bewußter Sorgfalt. Denn das Haus eines Botschafters, so beschrieb es André François-Poncet, »muß sich auszeichnen nicht durch einen aufdringlichen Luxus, sondern durch den guten Geschmack und das gute Gehaben, die dort herrschen. Sein Salon muß lebendig und interessant sein für alle, die sich dort treffen und sich in einer Atmosphäre wohl fühlen sollen, die von jeder Ziererei und jedem Snobismus frei ist. Sein gepflegter und reichgedeckter Tisch soll nicht nur für offizielle Kreise und Diplomaten bereitstehen ...

»Während mehrerer Jahrhunderte war Frankreich der Lehrmeister des guten Tons in Europa und der ganzen Welt. Diese Sonderstellung blieb ihm wenigstens teilweise erhalten. Es liegt an ihm (dem Botschafter), sie zu verteidigen. Die französische Botschaft wird im Ausland am aufmerksamsten beobachtet und überwacht, von ihr spricht man am meisten. Man sollte es dahin bringen, daß man sie nie anders als lobend erwähnt. In dieser Hinsicht ist die Botschafterin für ihren Gatten eine wertvolle Hilfe. Von ihrer Liebenswürdigkeit, Einfachheit, Umgänglichkeit, mehr noch als von ihm, von der Würde ihres Familienlebens hängen letzten Endes die Urteile ab, die über sie beide hinweg über ihr Land gefällt werden ...«

Was diese Front anbetrifft, so kann Frankreich beruhigt schlafen gehen, wenn auf Schloß Ernich die Kandelaber zum Abendempfang aufflammen. Hier schütten mehr Deutsche ihr Herz aus als bei den übrigen drei Hohen Kommissaren in Bonn und Berlin zusammen: Diplomaten und Politiker, Wissenschaftler, Künstler und

selbstverständlich auch Industrielle. Und wieder ist André François-Poncet am besten orientiert.

Jacqueline, die vollendete Dame - einst eine strahlende Schönheit, heute in der Garderobe von Dior sich etwas mütterlich gebend - , registriert mit echter Anteilnahme jede Veränderung in den Bonner Salons. André kontrolliert unterdessen den Pulsschlag der Ruhr und des Palais Schaumburg. Wilhelmstraßen-Diplomaten, denen er Affidavits schrieb, Industrie-Kapitäne, die in seinem Haus nutzbringende Geschäftsverbindungen knüpften, und Intellektuelle, die seine Reden über Goethe oder Descartes hörten, finden in ihm einen aufmerksamen Zuhörer.

Madame lauscht scheinbar gefesselt dem Plappern auch ihres dümmsten Gastes; nur ihren Augen merkt man an, daß ihre Gedanken siriusfern weilen. Monsieur genießt jedesmal aufs neue die Rolle des souveränen Gastgebers, sorgsam darauf achtend, daß seine Bosheiten beim Essen gleichmäßig auf seine Gäste verteilt werden.

Nie widersteht er der Versuchung, Menschen in Verlegenheit zu setzen; ob er bei Tisch mit Frau von Eckardt ein Gespräch über Herrenunterwäsche anknüpft oder ob er in einer Neujahrsansprache in Baden-Baden den höchsten Militärs der französischen Streitkräfte in Deutschland bescheinigt, die Offiziere hätten zweifellos den privilegiertesten Beruf auf Erden: Ihre Uniform lasse sie nicht nur stattlicher erscheinen als jeden Zivilisten und schenke ihnen mehr und leichtere Siege bei den Frauen, »außerdem haben Sie das einmalige Glück, stets jemand über sich zu haben, der Ihnen Befehle erteilt, und stets jemand unter sich, der diese Befehle ausführt«.

Heute in Bonn wie einst in Berlin haben die überragenden gesellschaftlichen Talente des französischen Botschafters zu teilweise gefährlichen Fehlurteilen geführt. Man war und ist geneigt, den eleganten alten Herrn dank seiner Vorliebe für schöne Frauen, Witz und Wein, geistreiche Unterhaltung und gutes Essen für einen Protagonisten des Salons und einen Statisten des Büros anzusehen.

Das stimmt nicht. Wenn sich andere nach einem guten Diner schlafen legen, kehrt André François-Poncet an seinen Schreibtisch zurück. Wenn andere nach einem mitternächtlichen Empfang am hellen Tag erwachen, hat André François-Poncet schon seine ersten Konferenzen mit seinen Mitarbeitern hinter sich.

Noch heute hört der 67jährige Hohe Kommissar jeden Morgen auf Schloß Ernich die 7-Uhr-Nachrichten, studiert anschließend die deutsche Presse, spaziert mit seinem militärischen Eckermann und Adjutanten Colonel de Galbert den Schloßberg hinab, vollendet im schwarzen Cadillac oder Mercedes 300 mit blauem Signallicht die Zeitungslektüre und sitzt gegen 9 Uhr am Schreibtisch, Furcht und Schrecken unter seinen Mitarbeitern verbreitend.

Wenn der Botschafter klingelt, lassen Botschaftsräte alles liegen und fallen und stürzen wie Schulbuben in den dritten Stock zum Chef, der ihnen oft genug die Minuten vorrechnet, die sie brauchten. Als einer von ihnen es einmal wagte, den Botschafter barhäuptig ins Freie zu geleiten, fragte André François-Poncet: »Wo ist denn Ihr Hut?« Er habe keinen, war die Antwort. André François-Poncet: »Woran merken Sie dann, wann Sie draußen sind?«

Vierzig Bände füllen die Berichte, die André François-Poncet in seinen sieben

Berliner Jahren an den Quai d''Orsay gesandt hat. Seine Depeschen waren, wie im Außenministerium nicht ohne Bestürzung festgestellt wurde, zeitweilig bis zu dreißig Seiten lang. Das waren keine mit der linken Hand verfertigten Routine-Arbeiten, das war die diplomatische Fron eines hellhörigen und scharfsinnigen Beobachters. Und daran hat sich auch heute, nach dem Umzug von der Spree an den Rhein, nichts geändert.

Obgleich André François-Poncet, stets wie aus dem Ei gepellt, mit seinem eiförmigen Kopf und seinem sorgsam gehegten Schnurrbart, seiner unerbittlichen gallischen Logik und seiner Eitelkeit äußerlich fast aufs Haar jenem Meisterdetektiv Hercule Poirot gleicht, der die liebenswerte Hauptfigur von Konrad Adenauers Lieblingsautorin Agatha Christie ist, hat der Bundeskanzler seine Befangenheit - eine sonst bei ihm unbekannte Eigenschaft - diesem Mann gegenüber nie verbergen können.

Die mangelnde Sympathie des Kanzlers geht auf einen Satz zurück, den André François-Poncet 1946, als Konrad Adenauer noch ein weniger bekannter rheinischer CDU-Politiker war, in seinem Buch »De Versailles à Potsdam« in aller Unschuld veröffentlichte, der aber an eine Episode rührt, an die der Bundeskanzler ungern erinnert wird: »Am 1. Februar 1919 erwartet man, daß der Kölner Oberbürgermeister Adenauer im Rathaus die Rheinische Republik ausruft.«

André François-Poncet nennt den Namen des Kanzlers in einem Zug mit dem des Separatisten Dorten und schreibt, man habe nicht verstanden, wie die französische Politik - »ohne in Widerspruch mit sich selbst zu geraten« - sich den Plänen dieser Männer »gegenüber gleichgültig verhalten, gleichzeitig aber die Schaffung unabhängiger Staaten auf dem linken Rheinufer betreiben konnte«.

Hinzu tritt bei Konrad Adenauer das unangenehme Gefühl, es mit einem gebildeten Menschen zu tun zu haben, der notfalls noch listenreicher ist als er und sein Staatssekretär Hans Globke zusammen; von des Franzosen gelassener Überlegenheit auf diplomatischem Parkett gegenüber

dem Kanzler und seinem unbeholfenen Schildträger Staatssekretär Walter Hallstein ganz zu schweigen.

André François-Poncet seinerseits schwankt, wie so oft in deutschen Fragen, zwischen Anerkennung und Mißbilligung. Einmal versichert er mit Tränen in den Augen, daß der Kanzler ein großer europäischer Staatsmann sei; dann schickt er wieder Depeschen an den Quai d''Orsay, deren Inhalt Amerikas Professor Conant sich nicht im Traum vorzustellen wagt. André François-Poncet zu einem gelegentlichen Besucher über Konrad Adenauer: »Er ist sehr einfach. Er ist ein Vereinfacher.«

Ähnlich sind sich Poncet und Adenauer nur - trotz des Franzosen bestrickender Hilfsbereitschaft in persönlichen Dingen - in der Herzenskälte, mit der sie politische Probleme zu betrachten pflegen und in ihrer Abneigung gegenüber der deutschen Sozialdemokratie:

▷ André François-Poncet äußerte vertraulich, daß Moskau durch die Austreibung der Ostdeutschen das westdeutsche Schiff überladen und zum Kentern bringen wolle, und seine - ebenfalls vertrauliche - Schlußfolgerung war, daß darum die deutschen Grenzen im Osten geschlossen werden müßten.

▷ Vor einem amerikanischen Gremium verglich André François-Poncet 1951 den typischen, ewig unzufriedenen Deutschen mit Faust; allerdings, so fügte er hinzu, gebe es einen Menschen, der noch schwerer zufriedenzustellen sei als der Dr. Faust, und das sei Dr. Schumacher. Der SPD-Führer vergab dem Franzosen dieses Bonmot nie, vermied jede Begegnung mit ihm und behauptete postwendend, ein Rundschreiben des Hohen Kommissars zu besitzen, in dem jener seinen untergeordneten Dienststellen Anweisungen erteile, wie am besten auf die innerparteiliche Absetzung Schumachers hinzuarbeiten sei. André François-Poncet zu dem Dokument: »Fälschung.«

»Wenn ich einen Ehrgeiz habe, so den, daß man mir eines Tages ein Denkmal errichtet als dem Manne, der Frankreich

und Deutschland versöhnt hat ... Zwischen uns steht nur das Saarproblem.« So sprach zu dem französischen Botschafter André François-Poncet ein deutscher Kanzler. Er hieß Adolf Hitler. Er hätte Konrad Adenauer heißen können.

Über ein Vierteljahrhundert hinweg hat sich der gleiche Zündstoff in den Beziehungen der beiden Völker gefährlich trocken erhalten, sind die gleichen Freundschaftsbeteuerungen gefährlich platonisch geblieben. Wie vor 25 Jahren in Berlin diskutiert André François-Poncet heute in Bonn mit einem deutschen Kanzler das Saarproblem. Wie im Dritten Reich sieht er sich einem Außenminister gegenüber, der von seinen Bewunderern mit Bismarck verglichen wird.

Und wieder hört er auf Festbanketten die pathetischen Beschwörungen einer deutsch-französischen Versöhnung, während er zugleich an der Hintertür lästige und freche Eindringlinge in die Interessensphäre der Vierten Republik verscheuchen muß:

Er verbietet die »Deutsche Saar-Zeitung«, weist SPD-Zahlen über deutsche Fremdenlegionäre zurück, rät dem deutschen Parlament, weniger die Worte »fordern« und »verlangen« und häufiger »wünschen« und »bitten« zu benutzen, erinnert die Deutschen daran, daß nicht nur ein paar tausend Deutsche als Kriegsverbrecher vor französischen Gerichten angeklagt wurden, sondern daß auch 200 000 Franzosen während der deutschen Besetzung liquidiert worden sind, und äußert offiziell sein »Erstaunen« darüber, daß Grenzschutzgeneral Matzky von 60 000 grünen Jägern träumt. André François-Poncet: »Kürzlich hat ein der Bundesregierung nahestehendes großes Blatt Frankreich Ohrfeigen angedroht, weil dies die einzig richtige Medizin für Paris sei. Wenn man so etwas liest, muß man sich fragen, ob Deutschland überhaupt kultiviert ist.«

Das alles war schon einmal da. Dieser Kleinkrieg gegen die teutonischen Barbaren

füllte seit jeher den Alltag des André François-Poncet.

Poncets Nachkriegsrezept für Deutschland wurde in der Atmosphäre des Sieges von 1945 geschrieben: »Es wird notwendig sein, Deutschland während mehrerer Jahre zu überwachen, es aufmerksam zu beobachten, eine eingehende Kontrolle auszuüben, um zu verhindern, daß es noch einmal Waffen schmiede, um den Frieden Europas zu bedrohen.«

Und: »Die deutsche Einheit war seit jeher der Grundpfeiler seines Expansionsdranges, seines Herrschaftsstrebens ... Ohne auf die Zerstückelungspolitik des Westfälischen Friedens zurückzukommen, könnte man sich vorstellen, daß Deutschland in drei oder vier große Staatengebilde aufgeteilt würde.«

Denn: »Wenn man aus dem Deutschland von morgen einen Einheitsstaat macht, dann besiegelt man das Werk der Nazis. Wird aus Deutschland ein Bundesstaat, so bedeutet dies, daß man in den Fußtapfen der Weimarer Republik oder des Bismarck-Reiches weitermarschiert. Beide Vorbilder haben sich in gleichem Maße als schädlich erwiesen.«

Daher: »Nur das Prinzip des Staatenbundes, der Konföderation ... wird Deutschland ein neues Gesicht verleihen, wird über die kriegerische Epoche seiner Geschichte hinweg an die Vergangenheit anknüpfen und es in neue Bahnen lenken.«

Heute ist das kräftig amputierte Deutschland in die drei Staatengebilde Bundesrepublik, Deutsche Demokratische Republik und Saarland aufgeteilt - freilich anders, als François-Poncet es sich gewünscht hatte - , und die Wahrscheinlichkeit ist gering, daß diese drei Staatengebilde in absehbarer Zeit zu einem Einheitsstaat oder einem Bundesstaat - wie sie François-Poncet fürchtet - oder auch nur zu einem Staatenbund - wie er ihn akzeptieren würde - zusammenwachsen.

In der Europa-Idee sah François-Poncet von Anfang an ein praktisches Instrument,

über Deutschlands westlichen Teil »eine eingehende Kontrolle ausüben« zu können. Daneben entsprach der Zusammenschluß Westeuropas seinem europäischen Geist, seinem wirtschaftlichen Sachverstand und seiner Feindschaft gegenüber der Sowjet-Union.

Daß Frankreich in einem geeinten Westeuropa trotz des natürlichen Übergewichts selbst nur Westdeutschlands die Führung übernehmen müßte, war für André François-Poncet stets selbstverständlich; immer wieder fasziniert es sogar seine Freunde, wie im sprühenden Feuerwerk seines hochgezüchteten europäischen Geistes plötzlich die Funken eines fast legendären französischen Chauvinismus aufblitzen.

Aber auf der Europa-Ebene liefen die politischen Geschehnisse nach André François-Poncets Ansicht bald nicht mehr mit Frankreichs Interessen parallel. Noch nicht einmal zehn Jahre nach der Kapitulation soll nach anglo-amerikanischem Willen eine neue deutsche Nationalarmee - wenn auch nur auf der Basis des westdeutschen Menschenmaterials - entstehen.

Mit gemischten Gefühlen sah Frankreichs Botschafter, wohin die Dinge trieben. Schon am 12. August 1952 erklärte er in einem Vortrag vor dem »Canadian Club« in Ottawa: »Seit Deutschland als Partner der Westmächte betrachtet wird, ist es wieder von nationalistischen Strömungen bewegt. Gewisse Nazis und reaktionäre Elemente, die sich bisher still verhielten, heben die Köpfe. Selbst die Sprache seiner Politiker wird kategorischer und gebieterischer. Was wird, wenn Deutschland wieder bewaffnet ist?«

Der extrem europafreundliche Außenminister Robert Schuman war bereit, für Europa alles in Kauf zu nehmen, einschließlich der von seinem Botschafter mit Mißtrauen bedachten deutschen Divisionen.

Darüber hinaus stahl Robert Schuman ungewollt in seinen unentwegten und direkten Kontakten und Verhandlungen mit Kanzler Konrad Adenauer dem Diplomaten einen Teil jenes Glanzes und jener Aufgaben, um derentwillen André François-Poncet den Beruf des Botschafters einst so liebte. Zwar schätzt und verehrt André François-Poncet seinen ehemaligen Außenminister Schuman*), aber als die Stunde schlug, da Poncet dem einen Europa-Matador, Konrad Adenauer, die Nachricht von der Demission des anderen - Robert Schumans - überbringen mußte, entledigte er sich dieser Aufgabe auf seine Art.

Der Kanzler war erstaunt ob der Eile und der ungewohnten Stunde, in der sich Frankreichs Hoher Kommissar melden ließ. Wie fröstelnd rieb sich André François-Poncet bei seinem Eintritt die Hände: »Es ist kalt bei Ihnen, Herr Bundeskanzler.« Und es war, als striche der Hauch einer Grabesgruft durch den hohen Raum im Palais Schaumburg. »Ich habe Ihnen Grüße zu bringen, Grüße von einem Toten.«

Noch ehe Konrad Adenauer sich von seinem Erstaunen erholen konnte, fuhr der Franzose fort: »Er ist nicht richtig tot, aber er ist von der politischen Bühne gegangen. Monsieur Schuman hat demissioniert.« Es war sekundenlang still, ehe der Kanzler nach den Gründen des Rücktritts fragen mochte.

André François-Poncet erklärte sie auf seine Weise. Es sei gut, so sagte er, wenn ein Staatsmann christlich, ja fromm sei. Monsieur Schuman aber, »er war zu fromm«. Er sei jeden Tag zur Kirche gegangen,

*) Beim letzten Deutschland-Besuch Robert Schumans sahen sich der ehemalige Außenminister und Madame François-Poncet gemeinsam den »Canaris«-Film an. das sei nicht gut für einen Außenminister. Der Kanzler hatte in dieser Minute kein Ohr für derlei Spott. Er dachte an Europa, als er klagend auf die mangelnde Stabilität der französischen Regierungen hinwies, die eine Einigung immer wieder verzögere und bedrohe. »Sie haben recht«, nickte André François-Poncet: »Bei uns regieren die Kabinette kurz. In anderen Ländern, Herr Bundeskanzler, zu lange.«

Offiziöse CDU-Propagandisten haben diesem Dialog das Schlußwort des Kanzlers angedichtet: »Dat jilt auch für die Amtszeit der Hohen Kommissare.« Die Retourkutsche ist, wie platt sie auch sein mag, nie gefahren worden.

Wie es auch sei: Das Kabinett Adenauer wird noch regieren, wenn der Hohe Kommissar François-Poncet in Paris spazieren geht, Leitartikel für den »Figaro« schreibt und sieht, auf was für riskante Dinge die Anglo-Amerikaner sich mit den Deutschen einlassen.

Poncet: »Die rassische Verbundenheit führt die Angelsachsen zu dem Glauben, sie seien bessere Kenner der deutschen Psychologie als wir. Tatsächlich aber setzt dies sie der Gefahr aus, sich leichter mißbrauchen zu lassen.«

Und: »Siebzig Millionen Deutsche, an Disziplin und fleißige Arbeit gewöhnt und in ihrer Masse leicht zu entflammen, sind unsere Nachbarn.«

Mutter mußte Rattenfleisch essen Lavals Sauerkraut-Mahlzeit Mit Hitler in der »Walküre« Die Bronzehunde vom Pariser Platz Das Führerbild auf dem Klavier Der Eintopf war das Schlimmste Offiziere haben es am besten Wie merken Sie, wann Sie im Freien sind? Es ist kalt, Herr Bundeskanzler

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