BILD-Serie zum Todestag von Reyhaneh Jabbari (†26): »Das Grab meiner Tochter wird geschändet 

Von: Antje Schippmann

Sie hatte ihren Vergewaltiger in Notwehr erstochen und wurde trotz internationaler Proteste dafür hingerichtet. Zum Todestag erzählt BILD die Geschichte der jungen Frau, um die die Welt weinte.

Im dritten Teil der Serie beschreibt Reyhanehs Mutter, wie sie anderen Eltern hilft, deren Söhne und Töchter vor der Hinrichtung stehen – und wie das Regime sie deshalb schikaniert und bedroht. 

*** Nach dem Begräbnis reißt die Anteilnahme für Reyhanehs Fall nicht ab. Auch jetzt, zwei Jahre nach der Hinrichtung, ist ihr Fall wie ein Symbol für das Unrecht der iranischen Justiz. 

Ihre Mutter, Sholeh Pakravan (52), ist mittlerweile nicht nur als Mutter von Reyhaneh Jabbari bekannt, sondern auch als mutige Stimme gegen die Todesstrafe. Ohne Furcht hat sie den barbarischen Hinrichtungen im Iran den Kampf angesagt und wagt wie kaum jemand sonst im Land laute Kritik an dem Regime. Deshalb steht sie im Visier des Geheimdiensts. 

Verhaftet am Todestag  

Zwei Jahre nach dem Tod ihrer Tochter hasst sie die Todesstrafe mehr als je zuvor: Sie könne die Tränen der Väter und Mütter um ihre hingerichteten Kinder nicht mehr ertragen. Sie könne den Anblick eines Menschen, der in der Luft hängt und um sein Leben kämpft, nicht mehr ertragen, schreibt sie in einer Erklärung.

Am Donnerstag organisierte sie eine Gedenkveranstaltung zum zweiten Todestag ihrer Tochter. Rund 120 Teilnehmer kamen zu Reyhanehs Grab, 180 weiteren wurde der Weg von den Sicherheitskräften versperrt.

20 Polizisten und 50 Geheimdienstmitarbeiter waren auf dem Friedhof, störten die Gedenkfeier, bedrohten die Teilnehmer und verhafteten rund ein Dutzend Menschen, darunter auch Sholeh. Ihre Reden würden zu viel Aufmerksamkeit erregen, so die Begründung der Geheimdienstler.

Ruppig wurde sie angepackt und aufs Revier gebracht. Nach einer halben Stunde ließ man sie wieder gehen.

„Denk an deine anderen Töchter ...“

Wegen ihres Engagements und ihrer Bekanntheit werden Sholeh und ihre Familie schon seit Monaten beobachtet und immer wieder eingeschüchtert. „Einmal stand sogar ein Scherge des Regimes vor dem Theater und wollte mich daran hindern, an den Proben für eine Aufführung teilzunehmen“, erzählt die studierte Theaterschauspielerin.

Bei der Arbeit, vor ihrem Haus und selbst am Grab von Reyhaneh wurden sie und ihr Ehemann schon von Geheimdienstmitarbeitern abgefangen. Sie sollen doch an ihre anderen beiden Töchter denken – an die beiden, die am Leben sind, so die perfide Drohung.

Und immer wieder wird Reyhanehs Grab von Unbekannten geschändet – auch das eine Botschaft des Regimes, befürchtet die Familie.

Im Sommer war die Grabschändung am schlimmsten: „Alles war mit den Wurzeln rausgerissen und hingeschmissen, wie um uns eine Warnung zu senden“, berichtet Sholeh.

Das Land wollen sie jedoch nicht verlassen – schließlich ist die geliebte Tochter dort begraben. Der Vater besucht das Grab jeden Tag.

Woran hat sie zuletzt gedacht?

Sie denke oft an Reyhanehs Kindheit, viele Erinnerungen kämen wieder hoch, erzählt die Mutter weiter.

„Ich frage mich dann immer, was ihre Erinnerungen wohl waren. Es lässt mich nicht los, ich liege nachts oft stundenlang wach und denke darüber nach. Was hat sie bei ihrem letzten Atemzug gedacht? Hatte sie bestimmte Lebensmomente vor Augen, als der Henker ihr die Schlinge um den Hals legte? Welche Bilder hatte sie im Kopf, bevor sie starb?“

Es sei wie eine innere „Taschenlampe in der Dunkelheit“, mit der sie nach Bildern suche, nächtelang. „Ich frage mich, was sie empfunden hat, als der Strick um den Hals gelegt wurde“, sagt Sholeh. „Jede Mutter kennt das, wenn das Kind zum Beispiel beim Spielen hinfällt und sich das Knie schrammt, dann leidet man mit ihm. Es tut einem selbst weh, wenn das eigene Kind Schmerzen hat.“

„Und dann denke ich an die Verursacher, an die Leute, die den Schmerz und den Tod meiner Tochter zu verantworten haben. Und dann empfinde ich nur noch endlosen Hass. Dann ist es keine Privatsache mehr, sondern dann stelle ich diese Ungerechtigkeit in Frage.“

Die Rückkehr ins Leben

In den ersten Monaten nach Reyhanehs Tod stand die Mutter unter Schock, berichtet sie im Gespräch. „Ich konnte am Anfang gar nicht realisieren, was passiert war. Ich war sehr mitgenommen und wollte nur noch sterben.“

Nach einigen Wochen besucht sie eine 92 Jahre alte Frau, die sechs Familienmitglieder durch Hinrichtung verloren hat: ihre vier Söhne, eine Tochter und den Schwiegersohn. „Da dachte ich: vielleicht werde ich auch 92 Jahre alt, dann hätte ich noch über 40 Jahre Lebenszeit vor mir und die will ich nicht nur im Bett liegen.“

Also beginnt sie, ihre Umgebung wieder wahrzunehmen. Sie trifft Familien, deren Kinder ebenfalls hingerichtet werden sollen. „An einem einzelnen Tag 2015 sollte es 40 junge Menschen treffen, wegen Rauschgiftdelikten. Vor dem Gefängnis hatten sich Menschen versammelt, um dagegen zu protestieren, so viele Familien zusammen“, erzählt sie. Doch vergebens: Zwar werden an dem Tag nur 15 Verurteilte hingerichtet, doch die anderen 25 folgen an einem späteren Tag.

Über diesen Protest knüpft Sholeh erste Kontakte, seitdem trifft sie sich regelmäßig mit Familien, die das gleiche durchmachen. „Gerade die Familien derjenigen, die wegen Rauschgift verurteilt werden, gehören oft zu den Ärmsten der Armen.“

Der Hass bleibt

Das Regime ermorde nicht nur die zum Tode Verurteilten, sondern auch ihre Familien, sagt die Mutter. Denn der Schmerz und die Wut verlassen einen nie mehr.

Egal, ob die Hinrichtung erst ein paar Monate oder 30 Jahre her ist: Der Hass auf die Täter sei bei allen Hinterbliebenen derselbe. „Und jedes Mal, wenn ich von Hinrichtungen erfahren, kommt er wieder hoch.“

Bei ihren Treffen trauert und weint sie mit den Familien, egal wie lange die Hinrichtung her ist. Dann lässt sie sich von den Menschen erzählen. Welche Erinnerungen gibt es? Haben Sie Fotos? Wie waren die Besuche im Gefängnis?

Und sie gibt wichtige Ratschläge: „Wenn die Vollstreckung noch aussteht, empfehle ich immer, alle Telefonate aus dem Gefängnis mitzuschneiden, damit man noch eine Aufnahme der Stimme hat, damit das zumindest bleibt.“

Die Besuche bei den Familien würden ihr zwar neue Kraft geben, sagt Sholeh. Aber zu Hause fühle sie sich oft kraftlos und leer. „Dann trauere ich nicht nur um den Verlust meiner Tochter, sondern auch um die anderen. Es sind teilweise furchtbare Schicksale, die ich miterlebe.“

Zum Beispiel eine Frau, deren Mann zum Tode verurteilt wurde. „Der Richter sagte, er lässt ihn am Leben, wenn sie mit ihm schläft, doch sie weigerte sich. Nun macht ihr Sohn ihr Vorwürfe, warum sie es nicht getan hat, der Vater würde jetzt noch leben“, berichtet Sholeh. „Oder eine andere junge Frau, die ihren Mann nicht einmal vor der Hinrichtung besuchen durfte. Auch ihr hatte ein Richter das gleiche Angebot gemacht, sie nahm es nicht an.“

Im Frühjahr machte der Fall einer jungen Frau im Iran Schlagzeilen, zu dem sich Sholeh auch öffentlich äußerte. Der Ehemann der jungen Frau hatte psychische Probleme und nahm sich das Leben. Doch trotz hoher Selbstmordrate im Iran – selbst nach Regimeangaben nahmen sich 2013 jeden Tag elf Menschen das Leben – ist Suizid ein schambehaftetes Thema, da es ein religiöses Tabu im Islam ist. Die Familie des Mannes behauptet deshalb, dass die Frau ihn getötet habe. Ihr Schwiegervater ist selbst Richter und beeinflusst den Prozess, erzählt Sholeh. 

„Es war genau wie mit Reyhaneh, sie haben die Frau gefoltert, um ein Geständnis zu bekommen und alle Indizien und Beweise für ihre Unschuld beseitigt.“

Vor der Hinrichtung rät Sholeh der Familie, dass sie den Fall öffentlich machen sollen, aber sie weigern sich. Das Regime hatte der Mutter eingeredet, dass ihre Tochter nur begnadigt werden könne, wenn der Fall nicht öffentlich werde.

„Wir haben versucht, ihr zu erklären, dass es eine Masche ist, auf die sie nicht hereinfallen darf. Dasselbe hatten sie bei uns versucht! Als das Mädchen dann hingerichtet wurde, quälte sich ihre Mutter mit schrecklichen Vorwürfen, dass sie dem Regime in diese Falle gegangen war.“

Ihre Arbeit gegen die Todesstrafe ist ihre Lebensaufgabe geworden. „Reyhanehs Akte ist noch voller Unklarheit und Ungerechtigkeit. So lange ich lebe, werde ich für die Gerechtigkeit kämpfen“, sagt Sholeh.

„Dieser Kampf ist wichtig, denn Fälle wie der von Reyhaneh passieren ständig.“

Ob sie nie Angst um ihre Sicherheit habe? „Hier geht es um die Vision meiner Tochter, deshalb habe ich keine Angst“, sagt Sholeh. „Die Erinnerung an sie ist mein Motor, meine Lebenskraft.“

In den Briefen von Reyhaneh finde sie immer wieder neue Anregungen und neuen Mut. „In einem Brief merkt sie beispielsweise an, dass in der Scharia nicht der Faktor Angst im Fall von Vergewaltigung berücksichtigt wird“, berichtet Sholeh. „Es wird außer Acht gelassen, dass eine Frau nicht an die Folgen denkt, wenn sie sich in großer Angst gegen ihre Vergewaltigung wehrt. Jetzt versuche ich, daraus ein Thema zu machen, für die Frauen, die wegen solcher Fälle vor Gericht stehen. Damit ich etwas für sie tun kann.“

Wenn die Wirtschaftsdelegationen aus Deutschland und der Welt in den Iran kommen, hat Sholeh kein gutes Gefühl: „Am Anfang haben wir uns gefreut. Ich hatte den Wunsch und die Hoffnung, dass die Wirtschaftsleute sich auch für die Menschenrechte bei uns im Land einsetzen werden“, sagt Sholeh.

„Aber mittlerweile wird uns, den Menschen im Iran, schmerzlich klar, dass Menschenrechte kein Thema für diese Besuche sind. Die Delegationen kommen wegen Business und sehen nicht, dass im Iran Öl und Blut vermischt sind.“

Unterstützung aus der Politik

Barbara Lochbihler, außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion des Europäischen Parlaments, würdigte das Engagement von Sholeh Pakravan.

„Man kann gar nicht hoch genug bewerten, wie wichtig es ist, dass Menschen wie Frau Pakravan im Iran eine Debatte darüber anstoßen, dass die Todesstrafe zu nichts führt“, sagt Lochbihler zu BILD.

„Ich zolle ihr meinen Respekt, es bedarf großen Muts, sich im Iran kritisch zur Todesstrafe zu äußern.“

Der Iran gebe sich aktuell nach außen zwar ‚moderater‘, nach innen sei davon jedoch nichts zu spüren: „Im vergangenen Jahr gab es sogar einen massiven Anstieg der Hinrichtungen, die Menschenrechtssituation hat sich nicht verbessert.“

„Es gibt keine Bestrebung, die Todesstrafe einzudämmen, im Gegenteil: im vergangenen Jahr wurden sogar wieder Minderjährige zum Tode verurteilt. Deshalb ist die Arbeit von Frau Pakravan so bedeutend und weist über ihren eigenen tragischen Einzelfall hinaus“, sagt die Europapolitikerin.

Die internationale Gemeinschaft sei beim Schutz zivilgesellschaftlicher Akteure gefragt: „Kritische Stimmen wie Frau Pakravan sind im Iran einer hohen Gefährdung ausgesetzt. Die EU und Deutschland sollten ihre Forderung nach der Abschaffung der Todesstrafe unterstützen und sich für den Schutz von diesen wichtigen Menschenrechtsverteidigern einsetzen. Leider passiert es zu oft, dass politische und wirtschaftliche Interessen schwerer wiegen und die Menschenrechte aus dem Fokus geraten.“

Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, betonte gegenüber BILD die Bedeutung der Arbeit von Sholeh Pakravan und verwies auf weitere Fälle:

„Politische Gespräche auf internationaler Ebene zur weltweiten Ächtung der Todesstrafe werden nur Erfolg haben, wenn auch in den betroffenen Ländern eine zivilgesellschaftliche Diskussion stattfindet. Deutschland unterstützt dabei die Kämpfer für Menschenrechte – so beispielsweise auch im Fall des seit Jahren inhaftierten iranischen Rechtsanwalts und Menschenrechtspreisträgers Abdolfattah Soltani“, sagte Hardt.

„Deutschland setzt sich für eine Abschaffung der Todesstrafe weltweit ein. Der Iran ist leider eines der Länder, das am häufigsten die Todesstrafe verhängt. Überdies entspricht der Iran nicht modernen rechtsstaatlichen Maßstäben.“

Arne Lietz, Menschenrechtspolitiker der SPD im Europäischen Parlament, fordert von der Bundesregierung und der EU, dass sie Fälle wie den von Frau Pakravan mit ihren iranischen Gesprächspartnern klar und deutlich ansprechen.

„Bei dem Enthusiasmus über die verbesserten Handelsbeziehungen mit dem Iran dürfen wir die Frage der Menschenrechte nicht unter den Tisch fallen lassen. Im letzten Jahr ist die Zahl der vollstreckten Todesstrafen im Iran auf fast 1000 angestiegen. Das ist ein klarer Anstieg gegenüber dem Vorjahr und verfestigt einen traurigen Trend.“

Ahmed Shahid, der UN-Sonderbeauftragte für die Menschenrechtslage im Iran, ging sogar von mehr als 1000 Hinrichtungen aus. 

Laut Amnesty International wurden 2015 fast doppelt so viele Menschen im Iran hingerichtet wie 2010 und sogar zehn Mal so viele wie 2005.

Lietz betont, dass Menschen wie Frau Pakravan ihrem Land eine unermesslichen Dienst leisten. „Indem sich Frau Pakravan öffentlich gegen die Todesstrafe engagiert, geht sie ein sehr hohes Risiko ein. Sie ist nicht allein, sondern steht stellvertretend für viele andere Aktivisten und zivilgesellschaftliche Gruppen im Land, die für mehr Demokratie und die Einhaltung der Menschenrechte im Iran kämpfen.“ 

 

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