Karacho, Korrektur, Kompromiss: Das Parlament macht aus dem «Raser-Artikel» ein «Zwischending»

Richtiger Raser oder zu schnell «aus achtenswerten Gründen»? Richter sollen mehr Ermessensspielraum haben.

David Biner, Bern
Drucken
Ein rasender PS-Protzer bei einem illegalen Rennen soll härter bestraft werden als ein Ambulanzfahrer.

Ein rasender PS-Protzer bei einem illegalen Rennen soll härter bestraft werden als ein Ambulanzfahrer.

Nathalie Taiana / NZZ

Politik und Medien sind sich manchmal ähnlicher, als beiden lieb sein dürfte. Nach einer intensiven Phase der Empörung und Skandalisierung folgen Einordnung und Korrekturen, zuletzt – und im Idealfall – der vertiefte Erkenntnisgewinn. Zumindest die Behandlung des «Raser-Artikels» verläuft nach diesem Mechanismus.

Aufgewühlt von mehreren Unfällen mit Toten und Schwerverletzten, war man sich parteiübergreifend einig: So nicht! Das Parlament wollte rasend schnell Raser-Delikte härter bestrafen. Man übernahm die Forderungen einer lancierten Volksinitiative von Roadcross, einer Stiftung für Verkehrssicherheit. Das war vor gut zehn Jahren.

Vom «Straf-Automaten» zur Einzelfallprüfung

Weil sich Geschwindigkeit gut messen lässt, definierte das Parlament Grenzwerte, die einen Autofahrer zum Raser machen. Etwa wenn jemand innerorts mindestens 50 km/h zu schnell fährt, auf Autobahnen 80 km/h oder mehr.

Das Parlament hat einen «Straf-Automaten» geschaffen, der bei einer Überschreitung gleich das Verdikt ausspuckt: eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr, und auch der Führerschein muss für mindestens zwei Jahre abgegeben werden.

Die Justiz funktioniert anders als Politik und Medien. Sie empört sich nicht, sondern arbeitet mit Gesetzen, die immer und für alle gelten und gleichzeitig Ausnahmefälle berücksichtigen. Beim Raser-Artikel ist kein Ermessensspielraum vorgesehen für die Richter.

Diese monierten aber schon bald, dass sie nicht nur das Tempo des Rasers, sondern auch dessen Gründe dafür und die Umstände auf ihrem Radar haben wollten. Die Politik gelangt in ihrer Einordnung ebenfalls zum vorläufigen Schluss, dass man womöglich zu weit gegangen ist.

Die Forderungen, die nach den tragischen Vorfällen verständlich waren, erwiesen sich in der Rechtsprechung als schwer umsetzbar. Denn auch Sanitäter und Polizisten, die mit Blaulicht und schneller als erlaubt zu ihrem Einsatz brettern, waren plötzlich Raser.

Und: Ist ein Temposünder, der mit seiner in den Wehen liegenden Frau ins Spital rast, gleich zu behandeln wie die PS-Protzer, die ein illegales Rennen durch ein Quartier veranstalten?

Es sind solche Fragen, die das Parlament zu einem U-Turn veranlasst haben. Sowohl die Mindeststrafe wie auch die Dauer des Permisentzugs sollten aufgelockert werden, vom «Straf-Automaten» zurück zur Einzelfallprüfung. Das ging Roadcross wiederum zu weit. Die Stiftung drohte mit dem Referendum und bremste die Räte aus.

Nun hat sich der Nationalrat am Dienstag auf ein «Zwischending» geeinigt, wie der Mitte-Fraktionschef Philipp Matthias Bregy die Lösung nannte. Demnach sollen Raser auch weiterhin mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bestraft werden.

Für Täter, die sich im Strassenverkehr zuvor nichts haben zuschulden lassen kommen, könnten die Richter die Minimalstrafe unterschreiten. Das Gleiche gilt für Temposünder, die aus «achtenswerten Gründen» zu schnell sind, also werdende Väter oder Ambulanzfahrer.

Die gleiche Praxis soll neu auch für die Dauer des Führerausweisentzugs gelten. Grundsätzlich bleibt sie bei zwei Jahren, kann aber gegebenenfalls auf ein Jahr reduziert werden. Der Nationalrat hat die Änderungen stillschweigend angenommen, und der Ständerat wird sich noch um den genauen Wortlaut kümmern müssen.

Keine «Lex Lüscher»

Das Parlament dämpft die einst verschärften Raser-Artikel ab, ohne dabei das Kernanliegen der Raser-Opfer gänzlich zu verwässern. Dass Roadcross vom SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor im Plenum als «extremistische Organisation» bezeichnet worden ist, stand genauso schief im Parlament wie die Forderung von Christian Lüscher.

Der FDP-Nationalrat wollte, dass man wieder Motorräder auf Trottoirs parkieren darf, weil er selbst wegen eines entsprechenden Vergehens gebüsst worden war. Hier vollzog die grosse Kammer eine Kehrtwende. Sie lehnte am Dienstag Lüschers Ansinnen ab, nachdem sie im März noch dafür gewesen war.